Ausgabe vom 23. April 2022 - Besser Leben

"Ich bin nur froh, dass alles so gut ausgegangen ist"

SeniorenWohnen Ludwigsfeld - die hundertjährige Bewohnerin Charlotte Wahls erzählt aus ihrem Leben

„Es ist wichtig, dass gerade jetzt die Menschen erfahren, was ich auf der Flucht erlebt habe." In ihrem geschmackvoll eingerichteten Appartement im SeniorenWohnen Ludwigsfeld beschreibt die hundertjährige Charlotte Wahls in druckreif formulierten und hier auszugsweise wiedergegebenen Sätzen, was sie an Dramatischem mitgemacht hat und wie gut sich ihr Leben entwickelte.

Die Heimat
Ich bin am 10. Februar 1922 in der Festungsstadt Brostau im Landkreis Glogau in Schlesien geboren. Mein Vater war Tischler. Er hatte 1918 die elterliche Schreinerei übernommen. Denn sein für die Nachfolge vorgesehener älterer Bruder kehrte nicht mehr aus dem Krieg - dem ersten Weltkrieg - zurück. Meine Mutter war Hausfrau. Ich hatte zwei Geschwister, einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Mein Bruder wurde mit 18 Soldat und galt später als vermisst in Ostpreußen. Meine Schwester wurde Krankenschwester und ist auch schon verstorben.

In der Schule trennte man die Kinder nach katholisch oder evangelisch. Für die evangelischen Schüler, zu denen ich gehörte, gab es drei Klassen mit jeweils einem Lehrer: Die Kinder im ersten und zweiten Schuljahr bildeten eine Klasse. Die Kinder im dritten, vierten und fünften Jahr gehörten zur zweiten Klasse. Und die dritte Klasse bestand aus den Jahrgängen sechs, sieben und acht. Ein Lehrer unterrichtete eigentlich zwei oder drei Klassen auf einmal. Das zeigt, wie wenig wir lernen konnten - doch dafür ist es ganz gut gelungen. Wir hatten sehr strenge Lehrer, Schläge waren damals üblich.

Die Politik
In der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 gab es ständig Wahlen und immer neue Regierungen. Viele Jahre herrschte große Arbeitslosigkeit und Armut. Die Männer lungerten herum und rauchten "Juno und Salem", eine Zigarettenmarke für 3 1/3 Pfennig pro Packung. Wir Kinder bettelten, sie mögen doch viel rauchen, denn dann erhielten wir von ihnen die Sammelbildchen, die den Packungen beigelegt waren.

Anfang 1933 kam Adolf Hitler an die Macht, und wir befanden uns plötzlich in einer Diktatur. Das Erschrecken war groß: Wie ist es in einer Diktatur? Mein Vater versuchte, zu erklären: "In einer Diktatur wird einem alles diktiert." Und er sagte zu Hause immer, "was hier am Tisch gesprochen wird, bleibt unter uns." Allgemein hieß es, "halt den Mund, sonst biste verschwunden." So erging es unserem Nachbarn, der einmal über Hitler schimpfte. Er kam weg und erst nach einem halben Jahr wieder zurück - grün und blau geschlagen und weißhaarig. Wir hatten gute Nachbarn.

Die Arbeitslosigkeit verschwand. Und wer keine Arbeit hatte, wurde dienstverpflichtet. Man baute viel: Straßen, Fabriken und jede Menge Kasernen.
Mein Vater, der schlecht schlief, hörte nachts häufig Züge fahren. Er ahnte allmählich, dass es sich um Kriegsvorbereitungen handelte. So wusste er schon ein halbes Jahr früher, dass der Krieg ausbrach.

Die Flucht
Nach der Schulzeit arbeitete ich im elterlichen Haushalt, auch Oma und Tante waren zu versorgen. Ich habe viel Angst gehabt in meiner Jugend im Krieg. Ende 1944 kamen Landvermesser und zeichneten in unserem Garten Schützengräben ein, "falls der Russe kommen sollte". Da wurde meine Angst noch größer.

Am 27. Januar 1945 mussten wir mit Pferd und Wagen fliehen. Mittags um 12 Uhr, so lautete die Anweisung, hatte der Treck zu starten. Pro Wagen waren 15 Personen vorgesehen. Jede von ihnen durfte 20 Kilo persönliches Gepäck mitnehmen. Das kam auf den Wagen, zusammen mit Heu und Hafer für die Pferde sowie mit den alten Menschen, die nicht nebenherlaufen konnten. An die Seiten, an die Sprossen, hängten wir von außen leere Getreidesäcke, in die wir unsere Federbetten stopften. Sie erwiesen sich als das wohl wertvollste Reisegepäck. Mein Vater überbaute unserem Wagen mit Holzlatten, auf die er den Teppich aus unserem guten Zimmer spannte - mit der schönen Seite nach unten. Damit hatten wir eine Überdachung. Den Wagen zogen zwei starke Pferde, sogenannte "Belgier". So verließen wir unsere Heimat, mein Vater schweigend, meine Mutter schweigend, jeder hatte Angst, es herrschten minus 18 Grad.

Die Flüchtlingstrecks durften nur Feldwege und Nebenstraßen benutzen, die Hauptstraßen waren der Armee, der Wehrmacht, vorbehalten. Die Straßen quollen über von Flüchtenden - Familien, polnische oder französische Zwangsarbeiter... alle wollten nach Westen. Wir folgten dem Flüchtlingsstrom, der - so chaotisch es auch zuging - gelenkt worden sein muss. So kamen wir jeden Tag an einer Station vorbei, an der in Waschzubern gekochte Suppe ausgegeben wurde.

Den Abend meines 23. Geburtstages verbrachten wir in einer überfüllten Scheune - erschöpft vom ständigen Gehen, voller Verzweiflung und Angst.

Am 13. Februar kamen wir bis 10 Kilometer an Dresden heran. Von unserem Nachtlager aus sahen wir den Himmel blutrot werden: Bombenangriffe legten die Stadt in Schutt und Asche. Wir zogen weiter ins sächsische Vogtland, wo uns die Menschen bereitwillig halfen.

Die Ankunft
In Bayern, in Oberfranken, endete am 27. März 1945 unsere Flucht. Die Bevölkerung war arm - und uns gegenüber oft sehr abweisend. Es dauerte lange, bis sich das normalisierte. Doch auch hier begegneten wir sofort hilfsbereiten Menschen: Eine alte Frau, die mich gleich nach der Ankunft zum Essen - Schweinsbraten mit Brennnesselgemüse - einlud. Die Familie, bei der wir einquartiert wurden. Die DRK-Schwester, die mir Adressen gab, wo ich mich für eine Krankenschwesterausbildung bewerben konnte.
Ich machte die Ausbildung, arbeitete und lernte meinen Mann kennen. Wir sind ein sehr glückliches Ehepaar geworden. Nach 60 Jahren Ehe sagte er mir auf dem Sterbebett: "Du warst mir das Liebste, was ich auf der Welt hatte." Ich habe zwei Kinder, vier Enkel und zwei Urenkel. Alle leben in guten Verhältnissen. Ich bin nur froh, dass alles so gut ausgegangen ist.

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