Ausgabe vom 20. Februar 2016 - Geniessen & Erleben

Der silberne, der goldene und der gläserne Berg

„Märchen sind Seelennahrung. Sie können den Lebensmut, die Lebenskraft im Menschen anregen.“

Über die heilende Kraft der Märchen berichtete in unserer Dezemberausgabe die Märchen- und Geschichtenerzählerin Helga Petri vom Ulmer Märchenkreis. Märchen können demnach andere Sichtweisen vermitteln, aus dem Gedankenkarussell befreien und Wege aus scheinbar aussichtslosen Situationen zeigen. Da lag die Frage nahe, ob der Ulmer Märchenkreis den Lebensfreude-Lesern ein solch aufbauendes Märchen erzählen will. Er will natürlich, und wählte das deutsche Volksmärchen „Der silberne, der goldene und der gläserne Berg“:

Es war einmal eine Königstochter. Jeden Abend ging sie aus und niemand wusste, wohin. Aber in der Früh, wenn sie heimkam, waren ihre Schuhe immer ganz zerrissen.

Auf dem Königshof diente ein Ritter. Er dachte bei sich: „Ich möchte gerne wissen, wo die Königstochter jeden Abend hingeht!“

Und einmal schlich er ihr nach. Da sah er vor dem Tor des Schlosses eine schöne Kutsche stehen. In die setzte sich die Königstochter hinein und fuhr davon. Am nächsten Abend, als sich die Königstochter wieder in die Kutsche setzte, sprang der Ritter auf und fuhr mit, ohne dass sie ihn bemerkte.

Nach einiger Zeit kamen sie zu einem steilen Berg, der war ganz aus Gold, hatte goldene Bäume mit goldenen Blättern. Die Königstochter fuhr über den goldenen Berg. Der Ritter aber streckte die Hand aus, riss ein goldenes Blatt von einem Baum und steckte es ein.

Dann kamen sie zu einem silbernen Berg mit silbernen Bäumen und silbernen Blättern. Und als sie darüber fuhren, riss er ein silbernes Blatt ab und nahm es mit.

Sie mussten aber noch über einen gläsernen Berg, der war ganz durchsichtig, und auf ihm wuchsen gläserne Bäume mit gläsernen Blättern. Im Fahren brach der Ritter auch hier ein Blatt ab und tat es zu den zwei anderen.

Auf der anderen Seite des Glasberges wartete der Teufel auf die Königstochter. Sie stieg aus der Kutsche und tanzte mit dem Teufel, tanzte, bis ihre Schuhe ganz zerrissen waren. Dann stieg sie wieder in die Kutsche und fuhr heim.

Am anderen Tag ging der Ritter zum König, gab ihm das goldene, das silberne und das gläserne Blatt und erzählte ihm, was er gesehen hatte. Der König erschrak und ließ seine Tochter rufen. Dann zeigte er ihr die drei Blätter und fragte: „Erkennst du diese Dinge?“

Die Königstochter erschrak, wurde ganz schwarz und fiel tot um.

Mit aller Pracht wurde sie nun in der Kirche aufgebahrt, und viele Soldaten mussten an ihrem Sarg Wache stehen. Um Mitternacht aber sprang der Sargdeckel auf und die Königstochter stieg als Teufel heraus und erschlug alle.

In der nächsten Nacht mussten noch mehr Soldaten wachen. Aber in der Frühe fand man sie wieder alle tot und erschlagen. Da wusste niemand mehr Rat. Nun wollte der Ritter allein bei der Königstochter wachen. Wie der Ritter so in Gedanken viele Stunden lang bei dem Sarg steht, hört er auf einmal eine Stimme: „Steige hinauf zur Turmspitze! Steige hinauf!“ Kaum war er oben angelangt, schlug es Mitternacht. Die Königstochter kam wieder als Teufel aus dem Sarg. Sie suchte und suchte, suchte alles ab und kam zuletzt auch zur Turmspitze. Da fand sie den Ritter und packte ihn beim Fuß. Da schlug es ein Uhr. Ihre Macht war zu Ende und sie verschwand wieder im Sarg.

In der Nacht darauf wachte der Ritter wieder bei dem Sarg. Abermals rief die Stimme: „Verstecke dich, verstecke dich auf dem Altar hinter der Heiligenstatue!“ Es schlug Mitternacht. Wieder suchte und suchte die schwarze Königstochter alles ab, und kaum hatte sie den Ritter gefunden, schlug die Uhr eins. Ihre Zeit war vorüber. Sie musste wieder in den Sarg.

Es war ihm unheimlich, aber er ging auch in der dritten Nacht in die Kirche und wachte am Sarg der verzauberten Königstochter.

Diesmal befahl ihm die Stimme: „Lege dich ganz dicht neben den Sarg! Hier, neben den Sarg!“ Er tat’s. Um zwölf Uhr sprang die Königstochter abermals aus dem Sarg, suchte und suchte die ganze Kirche ab. Sie konnte den Ritter aber nicht finden. Der Sargdeckel war auf ihn gefallen und deckte ihn zu. Da kroch er selbst geschwind in den Sarg. Es schlug ein Uhr. Die schwarze Königstochter wollte sich wieder hineinlegen in den Sarg, aber der Ritter lag darin.

Da ging ein Krachen durch die Kirche. Sie bebte bis in ihre Grundfeste. Dann wurde es still, ganz still. Der Ritter schaut sich um. Da steht sie vor ihm, schön wie früher, die erlöste Königstochter.

Große Freude herrschte am Königshof. Der Ritter hielt Hochzeit mit der Königstochter und bekam obendrein das halbe Königreich.

Der Ulmer Märchenkreis, von links nach rechts gesehen, in der vorderen Reihe: Tatjana Krenzer, Helga Petri, Josephine Giesbert-Liebig und Andrea Mittl. In der hinteren Reihe: Michael Asmussen, Maria Mendler-Holz, Doris Claas, Dorothea Auer und Marlies Kost.

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