Die Brücke
Unalltägliche Alltagsgeschichten
hs. "Wenn ein Fohlen mehr als zwei Wirbel hat, dann gib es am besten gleich zum Schlachter". Diese wenig feinfühlige Regel kursierte unter Pferdebesitzern und drückte aus, dass zu viele Wirbel im Fell auf besondere Eigenwilligkeit schließen lassen. Nes-El, das Fohlen einer jungen Physiotherapeutin, hatte sieben Wirbel.
Doch ihre Besitzerin wäre auch Anwärterin für einige Wirbel gewesen. Sie behielt das Fohlen.
Es wuchs heran zu einer Stute - ein Viertel Araber, der Rest Haflinger. Man sah ihr an, dass sie leidenschaftlich gerne aß. Wer mit ihr ausritt, musste eine Gerte dabei haben, sonst hätte sie den Ritt auf der nächstbesten Wiese grasend beendet. Ging man in einer Gruppe auf Tour, erweckte sie sofort Mitleid. Sie kam kaum nach und schien am Rande ihrer Kräfte. Doch wenn sich der Ritt dem Ende näherte und die übrigen Pferde schon müde waren, wurde sie erst richtig munter und unternehmungslustig. Es war eindeutig, sie hatte wieder alle ausgetrickst.
Kam sie in eine neue Herde, war sie meist die Kleinste und nach einer Weile der Chef.
Wer reiten konnte oder dies zumindest glaubte, musste sich auf ihr behaupten. Wer nicht reiten konnte, wurde geschont. Wenn ein Kind auf ihr saß, hätte sie sich eher von Hunderten von Mücken auffressen lassen, als dass sie eine Bewegung machte, die das Kind zum Rutschen gebracht hätte. Deswegen wurde sie jahrelang für die Reittherapie eingesetzt, und diese Aufgabe war ihr offensichtlich sehr wichtig.
Trotzdem hatte sie ihre sieben Wirbel. Und ihre Besitzerin sagte immer wieder: "Wenn die Nes-El in falsche Hände gekommen wäre, wäre sie bösartig geworden."
Kurzum, wenn die stämmige Stute den Gehorsam verweigerte, wusste man eigentlich nie, ob sie recht hatte oder keine Lust.
So erging es auch ihrer Besitzerin bei einem schönen Ausritt an einem frühen Wintermorgen. Sie kamen an einen Fluss und wollten über die Brücke. Nes-El stellte einen Fuß leicht auf die Holzplanke der Brücke und zog ihn zurück. Die Reiterin vermutete Ungehorsam und gab erneut den Befehl. Dasselbe Spiel: Fuß drauf und zurück. Die Reiterin blickte seitlich hinunter zu ihrem Pferd und sah in dessen Miene die Aussage; "Du kannst mich prügeln, aber ich gehe nicht über die Brücke." Also ritt man einen anderen Weg.
Einige Zeit danach erhielt die Besitzerin einen Anruf aus der Schule, an der sie arbeitete: Ob sie kurzfristig ihre Kollegin vertreten könne. Diese - ebenfalls eine Reiterin - war mit ihrem Pferd verunglückt, und zwar beim Überqueren einer Brücke. Deren Holzplanken waren wohl mit einer feinen Eisschicht überzogen. Jedenfalls rutschte das Pferd mitsamt Reiterin in das darunterliegende Flussbett. Beide hatten den Unfall - wenn auch lädiert - überstanden.
Es war dieselbe Brücke gewesen, wo das Pferd mit den sieben Wirbeln den Gehorsam verweigert hatte.
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