Liebe erfordert keine Leistung
SeniorenWohnen Ludwigsfeld beim 1. Fachtag Neu-Ulm: Sexualität im Alter - Raus aus dem Tabu
hs. Was ist älteren Menschen wichtig, was kann für sie getan werden? Zu dieser Frage erarbeiteten 2018 Seniorenberater, der Beraterkreis Senioren und Vertreter verschiedener Senioreneinrichtungen ein Seniorenkonzept für die Stadt Neu-Ulm.
Ralf Waidner, der Einrichtungsleiter vom SeniorenWohnen Ludwigsfeld, gehörte zu dem Autorenteam. Er erinnert sich noch an die Sitzung, in der allen klar wurde, dass auch ein Thema zu behandeln ist, an das man bei Pflege nicht unbedingt denkt: die Sexualität. Selbst das hunderte Seiten starke, führende Fachbuch zur Altenpflege widmet ihr gerade mal vier Seiten.
Das Seniorenkonzept Neu-Ulm fragte sich vor allem, wie die Pflege mit diesem sensiblen Thema umgehen kann. Dabei spielt es eine Rolle, wo gepflegt wird, ob ambulant - also zu Hause bei den Senioren - oder stationär, das heißt in den Senioreneinrichtungen.
1. Fachtag Neu-Ulm
Letztlich war es auch das Seniorenkonzept, welches die Stadt Neu-Ulm zu einem besonderen Schritt veranlasste: zu einem Fachtag zum Thema Alter und Sexualität. Er fand am 7. Oktober 2021 statt, also mitten in Coronazeiten, die ja nun nicht gerade dafür bekannt sind, die körperliche Nähe zu fördern. Rund 30 Teilnehmer kamen persönlich in das Edwin-Scharff-Haus in Neu-Ulm. Dabei waren natürlich Ralf Waidner und einige Mitarbeiterinnen aus dem SeniorenWohnen Ludwigsfeld, welches den Fachtag mit unterstützt hat. Rund 40 Interessierte schalteten sich online zu und verfolgten das Geschehen am Bildschirm von zu Hause aus.
Sex haben und alt sein - wie passt das zusammen?
Diese Frage beantwortete gleich im ersten Fachvortrag der systemische Berater Andreas Honke. Der Experte für Sexualpädagogik und Sexualberatung beschäftigt sich auch besonders mit dem Gebiet "Sexualität in der Pflege". Sein - hier stark verkürzt geschilderter - Vortrag erklärte unter anderem, warum wir uns körperliche Liebe im Alter so schwer vorstellen können:
Die gesellschaftliche Sichtweise setzt Sex mit dem Geschlechtsverkehr gleich, mit der sogenannten Penetration. Diese erfordert eine gewisse körperliche Leistungsfähigkeit und Agilität beziehungsweise Beweglichkeit. Kurzum: Sex steht dafür, knackig und fit zu sein.
Im Alter werden wir Menschen nun mal etwas runzelig. Außerdem sind wir dann in der Regel weniger leistungsfähig und nur eingeschränkt beweglich. Es verringern sich damit die Eigenschaften, die man gewöhnlich mit Sex in Verbindung bringt.
Sex = Du
Doch Sex lässt sich nur individuell bewerten. Dabei ist er mehr, als darunter in der Regel verstanden wird. So umfasst er neben körperlicher Nähe auch emotionale Nähe und kommunikativen Ausgleich. "Sex = Du", fasst Andreas Honke zusammen. Und diese Liebe können wir uns immer geben, sie setzt keine besonderen Leistungen voraus. Deshalb begleitet uns Sex ein Leben lang.
Das bestätigt auch ein Blick in die Psychologie, Biologie und Soziologie: Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856-1939), sah im Menschen ein sexuelles Wesen. Biologen stellten fest, dass Männer bis zum Lebensende Samen produzieren. Und die Soziologie ordnet das Verlangen nach Sexualität und Intimität sowohl den unverzichtbaren körperlichen Existenzbedürfnissen als auch den sozialen Bedürfnissen zu.
Sex in der Senioreneinrichtung?
Wie kann nun in der Pflege ein Freiraum geschaffen werden, in dem die Menschen ihre Sexualität leben können? Damit beschäftigten sich auf dem Fachtag mehrere Impulsvorträge und eine Podiumsdiskussion.
Und diese Frage nahmen auch Ralf Waidner und sein Team mit, um im SeniorenWohnen Ludwigsfeld praktische Lösungen zu finden. Hier können schon kleine Maßnahmen helfen, beispielsweise der von Hotels bekannte "Bitte nicht stören"-Anhänger, der bei Bedarf an der Türklinke des Appartements baumelt.
Dabei legte das SeniorenWohnen Ludwigsfeld schon bisher Wert darauf, möglichst viel Privatsphäre zu lassen. So hatte Ralf Waidner dort vor etlichen Jahren gerade als Einrichtungsleiter angefangen, als ihm eines Morgens ein Bewohner mit einer Unmenge an Brötchen begegnete.
"Was machen Sie denn mit den vielen Brötchen?", fragte der frischgebackene Einrichtungsleiter.
"Die sind für meine Freundin zum Frühstück", lautete die Antwort.
"Ist Ihre Freundin so hungrig?"
"In meinem Alter begnügt man sich nicht mit einer Freundin - ich habe sieben."
