Ausgabe vom 01. April 2014 - Sport & Bewegung

Das Abenteuerleben des Jimmy Müller

hs. Kurz nachdem diese Fotos des Bergsteigers Jimmy Müller entstanden waren, war er schon so gut wie tot: Er hing an einem Seil über einem Abgrund von 1.100 Metern und kam weder vor noch zurück. Das Seil, an dem er sich den Berg hinunter lassen wollte, hatte sich aufgrund eines Knotens verhakt. Bis ihn jemand finden würde, wäre er schon längst erfroren. Er überlegte, ob er die schnellere Variante wählen und das Seil gleich durchschneiden soll. Doch dann kämpft er um sein Leben: Nach mehreren Versuchen schafft er es, sich an die anderthalb Meter entfernte Felswand zu schwingen und sich dort festzuklammern. Mit einer Hand hält er sich fest, mit der anderen löst er sich vom Seil. Er hängt nun ungesichert über dem Abgrund. Jetzt befestigt er seine Haltevorrichtung, seinen Karabiner, wieder an dem Seil, aber so, dass es vom Knoten nicht mehr behindert wird. Er kann sich nun weiter „abseilen“ und erreicht irgendwann festen Grund unter den Füßen. Dann bricht er zusammen. Die letzte Flüssigkeit, die noch in seinem überstrapazierten Körper ist, heult er aus sich heraus. Das war 2008, auf der 14. Expedition des mittlerweile 51-jährigen Familienvaters, der eigentlich ein beschauliches Leben auf der Münsinger Alb führt. Fünf Jahre später hat er sieben weitere Touren hinter sich gebracht, mit herabstürzenden Felsbrocken, Stein- und Schneelawinen, Knochenbrüchen ... Jetzt plant Jimmy Müller gerade das Abenteuer Nr. 22. Warum tut er sich das an? Was hat er erlebt? Wie bewältigt er die unmenschlichen Strapazen? Warum ist er so zufrieden dabei? Was können wir daraus für unser Leben lernen?

 

Abenteuer leben

hs. Jimmy Müller heißt eigentlich Armin. Doch der Junge Armin wollte unbedingt das Plakat zum Film „Und Jimmy ging zum Regenbogen“ haben. Deswegen wartete er fast eine Woche lang jede freie Minute vor dem Glaskasten, in dem das begehrte Stück hing. Irgendwann musste doch der Kinobesitzer kommen und es gegen ein neues Plakat austauschen. Nach zwei, drei Tagen riefen ihm die Leute zu: „Na Jimmy, wartest  Du auf den Regenbogen?“. Bald darauf hieß Armin nur noch Jimmy.
Der Glaskasten, an dem sich der hartnäckige Armin seinen neuen Vornamen erwarb, stand in Buttenhausen. Das ist ein beschaulicher Ort auf der schwäbischen Alb, etwa sechs Kilometer südwestlich von Münsingen gelegen. In Buttenhausen wurde Jimmy Müller am 2. Oktober 1962 geboren. Dort ist er aufgewachsen. Dort heiratete er 1989 seine Frau Gina. Dort leben sie immer noch mit ihren beiden Kindern Jim und Sophia. Und immerhin seit 1991 ist Jimmy Müller bei der Münsinger Rettungswache als Rettungssanitäter tätig. Ein solch bodenständiges Leben erscheint eigentlich nicht sehr abenteuerlich.
Es ist es aber trotzdem. Denn es gibt ja noch die Freizeit und die Urlaube. Und die verbringt Jimmy Müller - mit Frau, Kindern oder Freunden - gerne kraft- und nervenaufreibend: 1998 beispielsweise radelte er mehr als 2.400 Kilometer quer durch Alaska. Gleich in der ersten Nacht lernte er einen Eisbären in freier Wildbahn kennen. 2002 erklomm er erstmals den Mont Blanc. 2003 machte er seinen ersten Ironman: Nacheinander 3,8 Kilometer schwimmen, 180 Kilometer Fahrrad fahren und 42,195 Kilometer laufen. In demselben Jahr hisste er die Schwabenfahne - seinen ständigen Reisebegleiter - auf dem 6.962 Meter hohen Aconcagua in den südamerikanischen Anden. Der Aconcagua ist der höchste Berg außerhalb Asiens. 2005 bezwang Jimmy Müller - nicht ohne Erfrierungen und Beinahe-Abstürze - seinen ersten Achttausender, den Cho Oyu mit 8.201 Metern im Himalaya. Es folgten unter anderem der 7.134 Meter hohe Pik Lenin in Kirgistan, 90 Kilometer Fußmarsch über den zugefrorenen Baikalsee in Sibirien, eine Vulkanbesteigung im Iran, ein Besuch beim Dalai Lama und Gletschertouren in Georgien. So sammeln sich immer mehr Stationen auf der „Löffelliste“. Was ist eine „Löffelliste“? Hinter der rustikalen Bezeichnung verbirgt sich die Antriebskraft für Jimmy und seine Abenteuergefährten. Die Liste enthält alle Erlebnisse, die man erfahren möchte, bevor man den „Löffel abgibt“, also das Zeitliche segnet. „Denn“, so erklärt Jimmy Müller mit leuchtenden Augen, „Geld, Ruhm, liebe Menschen, das alles kann man verlieren, aber seine Erlebnisse nicht.“

 

Folge deiner eigenen Spur

So lautet der Titel eines 253 Seiten starken Buches über Jimmy Müllers abenteuerliches Leben.  Autoren sind Jimmy Müller und Reiner Frenz. Reiner Frenz ist Redakteur beim Alb Bote, der Tageszeitung auf der Münsinger Alb. Erschienen ist das reich bebilderte Buch 2013 im WIEDEMANN VERLAG in Münsingen. Die Lebensfreude hat sich mit Jimmy Müller über seine Erlebnisse und sein Buch unterhalten:

Wo warst Du überall?

Alaska, Island, Nord- und Südamerika. Dann hat es mich auf den afrikanischen Kontinent verschlagen, aber nur ganz oben in den Norden. Irgendwann ging es in Richtung Himalaya. Das ist eigentlich der Hauptbestandteil unseres Buches: Viel im Himalaya, in Asien, auch in Zentralasien, Kirgistan, Georgien, Kaukasus. Überall da, wo schöne Berge stehen.

Und Du besteigst immer diese Berge?

Ja, ich versuche es jedenfalls. Ich komme nicht immer hoch. Die Berge setzen schon einmal die Grenze und sagen: „Bis hierher und nicht weiter!“ - ob es körperliche Grenzen sind oder irgendwelche Gefahren am Berg. Wenn man hochkommt, ist es toll. Wenn nicht, dann hat man eine schöne Zeit gehabt am Berg. Entweder versucht man es wieder, oder man sucht sich einen anderen Berg aus.

Auf welchen Bergen bist Du schon gewesen?

Auf dem Mont Blanc zum Beispiel. Dreimal war ich oben. Und irgendwann geht es höher hinaus, es kommen die Siebentausender, oder schon fast Siebentausender: In Südamerika der Aconcagua. Er ist technisch nicht allzu schwierig, aber die Höhe macht es aus. Das ist schon eine Herausforderung, ob man es überhaupt körperlich schafft, in solche Höhen zu kommen. Wenn man es noch höher will, muss man in den Himalaya gehen. Und so steht irgendwann der Versuch am Achttausender auf dem Programm. Man sucht sich natürlich nicht gleich den Schwersten raus. Aber wichtig ist für mich, dass ich diese Berge besteige ohne fremde Hilfe, ohne Hilfsmittel. Einfach rangehen, einfach versuchen, so wie die Erstbesteiger, und einfach viel Spaß an diesen Bergen haben. Und dann kommen natürlich auch die schwierigen Berge, zum Beispiel der Nanga Parbat, wo ich ja gescheitert bin und nur knapp dem Tod entronnen bin. Das sind Erlebnisse, die prägen einen, aber die sagen auch: Man muss jede Zeit nutzen.

Spätestens nach einem solchen Erlebnis würde ich mit dem Bergsteigen aufhören.

Nein, aufhören kann man eigentlich nicht. Man sagt höchstens, die Achttausender müssen es nicht mehr sein. Es gibt so viele andere schöne Berge.

Berge und Menschen

Bei einer Reise hattest Du alte Fotos dabei.

Einmal waren wir im Winter im Himalaya auf den ChadarTrek. Der Chadar ist ein Eisfluss. Bei 30 bis 35 Grad minus im Hochtal im Himalaya unterwegs zu sein, das hat auch was. Ein Freund von mir hatte in den 1990er Jahren dieselbe Route gemacht und davon einige Fotos mitgebracht. Er sagte zu mir: „Nimm doch die Bilder mit. Vielleicht findest Du jemanden, den man darauf erkennen kann.“ Es waren zehn bis fünfzehn Bilder. Und komischerweise haben wir die abgebildeten Leute alle getroffen, natürlich um einiges älter als damals.

Und die haben sich gefreut?

Ja, unglaublich sogar. Und dann ist man auch gleich irgendwie aufgenommen, wird überall eingeladen, obwohl die Leute ja wirklich nicht viel haben. Aber trotzdem, das ist schon sehr, sehr herzlich.

Was war Dein schönstes Erlebnis auf den Reisen?

Der Kontakt zu den Menschen. Ja klar, man hat ein Ziel. Wenn man Berge besteigt, möchte man natürlich hoch kommen. Man stellt sich vor, irgendwann mal oben auf dem Gipfel zu stehen. Dann hat man eigentlich alles erreicht, was man will. Aber bei mir fängt die Reise immer an, wenn ich in dem Land ankomme. Vor allem diese Menschen kennen zu lernen. Das hat auf mich oft einen viel größeren Eindruck hinterlassen als der Berg selbst. Ich kann zwar sagen, ich war auf einem Achttausender, auf einem Siebentausender. Aber das sind alles so punktuelle Erlebnisse. Doch die Geschichten mit den Menschen, was man da so erlebt und mitbekommt, das bleibt viel länger in einem drin.

Und was sagt die Familie zu Deinen Abenteuern?

Nun, sie geht ab und zu mit. Früher sind die Kinder auch schon mit in die Berge, gerade in die Alpen: Ab und zu einen Klettersteig, Ski fahren, Snowboarden. Und meine Frau, die ist auch mit in den Himalaya. Die war jetzt schon auf 6.500 Metern. Sie kommt dieses Jahr wieder mit auf einen Sechstausender. Sie weiß also schon, um was es geht.

Was reizt Dich am Bergsteigen? Was hat man davon, die Berge rauf und wieder runter zu klettern?

Schon allein das Erlebnis, unterwegs zu sein. Vor allem auch die Herausforderung zu suchen. Wie weit kann ich gehen mit meinem Körper. Wo ist meine Grenze? Und dabei noch Spaß zu haben und das Ganze gerne zu machen, das ist eigentlich die Herausforderung für mich. Und andere Kulturen kennen zu lernen. Und ich mache das ja nicht für irgendjemanden, sondern nur für mich alleine. Ich habe auch kein Problem, wenn ich mal einen Berg nicht schaffe. Dann habe ich ihn halt nicht geschafft. Ich muss niemandem Rechenschaft ablegen.

Du hast geschrieben, „Pläne muss man auch ändern können.“

Richtig. Das ist ja das Schöne daran. Man kann oft etwas auf sich zukommen lassen und dann den Weg einschlagen, bevor man das alles vorher so durchplant. Lieber ein grobes Ziel, hinfahren und mal schauen, was geht.

Wie schaffst Du es, solche Strapazen zu bewältigen und diese Ziele zu erreichen. Gibt es dafür auch geistige Methoden?

Ja, das mentale Training funktioniert wirklich: Man stellt sich beispielsweise den Berg vor, den Gipfel. Es gibt ja heutzutage von jedem Gipfel Fotos im Internet. Dann stellt man sich vor, auf diesem Gipfel zu stehen. In den Alpen kann man Gipfelkreuze berühren, oder im Himalaya gibt es Steinmänner oder Gebetsfahnen. Dann sagt man sich: „OK, ich stelle mir vor, dass ich dort oben genau das berühre“. Das mache ich während einer Vorbereitungszeit jeden Tag eine halbe Stunde lang. Bei manchen Touren oder beim Ironman wäre ich unterwegs sicher ein paarmal eingebrochen: „Eigentlich müsste ich jetzt aufhören!“. Aber es ging immer weiter. Denn das Unterbewusstsein hat sich so auf dieses letzte Bild konzentriert. Es hat mich immer vorwärts getrieben. Und dann tatsächlich die Situation zu erleben: Man sieht plötzlich dieses Bild, welches so viel Zeit in Anspruch genommen hat, das man sich immer vorgestellt hat. Das ist unglaublich.

Außerdem stellst Du Dir die Hindernisse vor und wie Du sie bewältigst?

Genau. Man kann ja aus dem Büchern und aus den Berichten oft rauslesen: Wie geht der Weg. Wo muss ich rauf. Was für Schwierigkeiten kommen. Wo ist die Schlüsselstelle. Wie haben Andere das gemacht. Das kann man sich schon alles ein bisschen vorstellen. Aber was natürlich auch wichtig ist: Die körperliche Fitness. Die gehört dazu. Ich bin viel mit dem Mountain Bike unterwegs, habe schon dreimal den Ironman gemacht. Als ich diesen Triathlon zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich: „Wie kann man so etwas Verrücktes machen.“ Aber ich habe eine Nacht darüber geschlafen und mir dann gedacht: „Das sind auch keine Übermenschen. Versuch es doch einfach.“

Kann man etwas lernen für das übrige Leben, wenn man Berge besteigt?

Ich glaube schon. Man ist sicher entspannter gegenüber den Problemen, die wir im Alltag haben. Wir machen uns unsere Schwierigkeiten meist selbst, oft sind es nur Nichtigkeiten. Wenn man in solchen Ländern unterwegs ist, an solchen Bergen, dann hat man wirklich Probleme, die man bewältigen muss, damit man wieder nach Hause kommt.

Bist Du ein zufriedener Mensch?

Genau. Man kann ja aus dem Büchern und aus den Berichten oft rauslesen: Wie geht der Weg. Wo muss ich rauf. Was für Schwierigkeiten kommen. Wo ist die Schlüsselstelle. Wie haben Andere das gemacht. Das kann man sich schon alles ein bisschen vorstellen. Aber was natürlich auch wichtig ist: Die körperliche Fitness. Die gehört dazu. Ich bin viel mit dem Mountain Bike unterwegs, habe schon dreimal den Ironman gemacht. Als ich diesen Triathlon zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich: „Wie kann man so etwas Verrücktes machen.“ Aber ich habe eine Nacht darüber geschlafen und mir dann gedacht: „Das sind auch keine Übermenschen. Versuch es doch einfach.“ Ja! Tief in mir drin bin ich total zufrieden.Ich habe schon so viel erreicht, für mich selbst und auch mit meiner Familie. Ich könnte es eigentlich nicht schöner haben. Ich habe alles gemacht, was ich möchte. Alles, was dazu kommt und was ich jetzt noch mache, ist für mich nur noch Bonus. Und das genieße ich, da freue ich mich darauf. Daher bin ich entspannt und sehr zufrieden mit meinem Leben.

Wir haben das Interview mit Jimmy Müller gefilmt. Das Video finden Sie auf www.lebensfreude-verlag. de oder bei www.wiedemann-verlag.de

 

Abenteuer und Zufriedenheit

hs. „Es gibt nur ein beständiges Glück: Die Zufriedenheit!“ Stimmt dieses Sprichwort? Wie verträgt es sich mit der Empfehlung, immer wieder unsere Komfortzone zu verlassen? Die Komfort- oder Wohlfühlzone ist ja der Bereich, der uns vertraut ist. Hier haben wir es uns behaglich eingerichtet, etwa im heimeligen Zuhause, an stets demselben Urlaubsort, im bekannten Arbeitsgebiet. Forscher stellten aber fest, dass wir glücklicher werden, wenn wir ab und zu einen Schritt über das gewohnte Umfeld hinaus wagen: Abends auch mal weggehen, das Urlaubsziel wechseln, den Arbeitsbereich um neue Aufgaben erweitern. Das anfangs Unbekannte wird nach einer Weile ebenfalls vertraut. Wir haben damit unsere Grenzen nach außen verschoben, sprich unsere Wohlfühlzone erweitert.Bestes Beispiel dafür ist der in unserer Titelgeschichte dargestellte Abenteurer Jimmy Müller. Regelmäßig verlässt er seinen Komfortbereich, die schöne Münsinger Alb. Er will sich lieber in fernen Ländern an unwirtlichen Bergen abplagen und oft Kopf und Kragen riskieren. Und dabei bezeichnet er sich als zufrieden.
Ob Abenteuerlust und Zufriedenheit zusammen passen, hängt davon ab, was wir unter Zufriedenheit verstehen. Dieser Begriff lässt sich nämlich  - wie es der Benediktinermönch und Buchautor Anselm Grün beschreibt - auf verschiedene Weise gebrauchen: Nehmen wir sämtliche Gegebenheiten und Grenzen als unabänderlich hin? Dann resignieren wir in einem Zustand „wunschlosen Unglücks“. Halten wir nur uns selbst, unsere Eigenschaften, für unabänderlich? Das riecht eher nach Selbstzufriedenheit. Sind wir jedoch im Frieden und Einklang mit uns selbst und dankbar für das Erlebte? Bei dieser Art von Zufriedenheit haben wir bestimmt unsere Grenzen ausgetestet. Wir haben sie entsprechend unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten erweitert. Damit waren wir, wenn auch nicht unbedingt auf 8000 Metern Höhe, abenteuerlustig. Wir haben also das sogenannte Gelassenheitsgebet beherzigt: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Wie entwickeln wir die Weisheit, das Veränderbare zu erkennen? Jimmy Müller Empfehlung hierzu findet sich gleich zum Auftakt seines Buches. Er zitiert ein pakistanisches Sprichwort: „Wenn Du es nicht versuchst, wirst Du nie wissen, ob Du es kannst.“

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